Die Blätter rauschten an Nevra vorbei und leckten über sein Gesicht.
Zweige brachen unter seinen Füßen wie Klanghölzer.
Das dünne Licht, was noch durch den Wald drang war kaum hell genug den schlammigen Weg zu erleuchten, geschweige denn die vielen Hindernisse zu bestrahlen, die die Flut an Regen auf den schmalen Pfad zwischen den Bäumen angeschwemmt hatte.
Doch Nevras Augen funktionierten auch bei diesen Lichtverhältnissen phänomenal.
Tatsächlich war die Dämmerung für den Leiter der Schattengarde so etwas wie der Wind für die Mühlen. Und diesen Wald kannte er inzwischen besser als die Körper der Frauen, mit denen er sich zuletzt vergnügt hatte.
Eigentlich wollte er bis nach dem Abendessen warten, um mit ihr zu reden.
Sich heimlich zu ihrem Zelt stehlen, ihr dort auflauern, sie in den Wald zerren und dort…
zur Rede stellen, natürlich.
Doch sie kam nicht zum Abendessen.
Sie war auch nicht bei der Quelle, ihrem Zelt oder sonst irgendwo in diesem Lager. Und das wusste Nevra genau, denn er hatte jeden verfluchten Winkel nach ihr abgesucht.
Zuerst befürchtete er, dass sie sich im Wald verlaufen hatte.
Doch je weiter er sich seinen Weg durch das Gestrüpp bahnte, desto sicherer war er, dass es nur einen Ort geben konnte, zu dem sie gegangen war.
Ein seichtes Plätschern verriet ihm, dass er sein Ziel fast erreicht hatte.
Und da war noch ein anderes Geräusch.
Wie vor wenigen Tagen, als sie vor Schmerzen gestöhnt hatte, vernahmen seine Ohren wieder den Klang ihrer Stimme. Doch dieses Mal summte sie.
Nevras Füße wurden langsamer, als er auf die Lichtung einbog. Die Abendsonne hatte sich dort wie ein güldener Schleier über die Büsche gelegt.
Wie erwartet lehnte Emilia an dem Baumstamm mit den eingeritzten Kerben.
Sie hatte die Augen geschlossen und die Arme hinter ihrem Kopf verschränkt.
In ihren Ohren steckten violette Stöpsel und ihr Fuß wippte zu einem für Nevra unbekannten Takt.
Als er ein paar Schritte auf sie zu trat, bedeckte er ihr Gesicht mit seinem Schatten.
Langsam blinzelte sie durch ihre Wimpern und verzog das Lächeln, das bis eben noch um ihre Mundwinkel spielte, zu einem Ausdruck der Empörung.
Da sie aufhörte zu summen, vernahm Nevras feines Gehör ein leises, rhythmisches Getrommel, dass durch die kleinen Stöpsel dröhnte, die sich Emilia nun aus den Ohren zog.
„Ich habe doch gesagt, dass ich etwas Zeit brauche“, brummte sie und ließ sowohl die Stöpsel als auch einen kleinen, violetten Apparat hinter ihrem Rücken verschwinden. Sie gab sich alle Mühe, die Sachen zu verstecken, doch Nevra hatte sie ohnehin längst durchschaut.
Um ihr aufzuhelfen, bot er ihr eine Hand an, die sie jedoch mit einem stoischen Blick zur Seite ablehnte.
Seufzend ließ er sich zu ihr auf die Erde nieder, woraufhin sie ein paar Zentimeter von ihm weg rutschte und an einem Grashalm zupfte.
Nevra runzelte die Stirn. Wieso war sie nur so schrecklich abweisend?
Da er jedoch nicht wusste, wie viel Zeit ihm blieb, ehe sie wieder vor ihm davonlief, konzentrierte er sich auf die wichtigen Dinge.
Auf das, was ihm Ykhar erzählt hatte.
Auf das, was Emilia nun nicht länger geheim halten konnte.
„Eine Ballerina ist keine Gestalt aus einer Sage”, sagte er. Seine Worte vibrierten in der Luft, „Sie ist eine Tänzerin aus deiner Welt, stimmt’s?“
Der Halm brach in Emilias Fingern in Zwei.
„Wieso hast du das verheimlicht?“, fragte Nevra weiter. „Wieso hast du niemandem gesagt, dass du… ein Mensch bist?“
Die eigentliche Frage war, wie sie das überhaupt verheimlichen konnte. Bisher war Nevra noch keinem Menschen begegnet, aber er hätte schon viel früher stutzig werden müssen.
Anstelle einer Antwort zog Emilia ihre Beine eng an ihren Körper und schlang ihre Arme darum. „Schickst du mich jetzt weg?”
Nevra zog die Augenbrauen zusammen. „Du meinst, weil du noch weniger über Eldarya weißt, als ich befürchtet habe? Glaub mir, es ist beruhigend zu wissen, dass dein Unvermögen in deiner Unwissenheit begründet ist.”
Sein Versuch die Situation zu erheitern, scheiterte, denn Emilia verstärkte den Griff um ihre Beine nur.
Obwohl Nevra sie mit der Wahrheit konfrontiert hatte, wirkte sie verschlossener als zuvor. Dabei brannte er darauf zu erfahren, wie sie hierhergekommen war, wieso sie ihre menschliche Natur verheimlicht hatte und wieso sie nicht alles daran setzte, wieder in ihre Welt zurück zu gelangen.
Um sie nicht zu verschrecken, lehnte er sich wie sie an die Rinde. „Wo warst du, bevor ich dich vor ein paar Tagen hier gefunden habe?”
Es vergingen mehrere Minuten, in denen er geduldig schweigend neben ihr sitzen blieb, während sie unschlüssig den gerissenen Halm in ihrer Hand betrachtete. Noch immer gab dieser ein pfeifendes Geräusch von sich. Und wie alles in dieser Welt betrachtete Emilia es mit einer Mischung aus Argwohn und Faszination.
„Ich bin von einer Brücke gestürzt und an einer Küste im Süden dieser Welt gelandet”, gestand sie schließlich. Ihre Stimme klang so dünn, als kämpfte sie um jedes einzelne Wort. Sie sah nicht zu Nevra auf, sondern sprach gegen ihre Knie. „Erst nach zwei Tagen gelangte ich endlich zu einem Dorf, das noch nicht der Bestie zum Opfer gefallen war. Nach all den Ruinen, all dem Feuer… ich war so froh. Ich wollte dort um Hilfe bitten, einfach mit irgendjemanden sprechen. Ich wollte endlich meine Fragen stellen. Das kostete mich viel Mut, denn ich wusste nicht, ob ich bereit für die Antworten war.”
Sie schluckte. „Aber soweit kam es gar nicht. Bevor ich auch nur die Gelegenheit hatte, nach Antworten zu fragen, schickte man mich weg. Sie wollten niemanden in ihr Dorf lassen, den sie nicht kannten. Dass ich ein gestrandeter Mensch war, glaubten sie mir nicht. Sie hielten es für einen Trick der Bestie und wiesen mich fort. Ich könnte von Glück reden, dass sie mich nicht hinrichten, haben sie gesagt. Also ging ich zum nächsten Dorf,... und zum übernächsten.
Von einem Wanderer, den sie ebenso vor die Tür setzten wie mich, erfuhr ich, dass es keinen Weg zurück in meine Heimat gab. Doch ich fand auch keine neue. Niemand wollte mir helfen. Auch andere Wanderer nicht. Daher suchte ich weiter. Immer weiter. Aber es war überall dasselbe.
Alles dasselbe…
Bis auf das letzte Dorf, das ich aufzusuchen wagte. Es lag weiter im Norden, tief im Wald. Ich ging es behutsam an, trug Beweise vor und beschwor meine Ehrlichkeit. Ich wollte meine Hilfe anbieten und dafür nur ein bisschen Essen.
Und tatsächlich...
In diesem Dorf war alles anders. Die Bewohner dort glaubten mir, dass ich ein Mensch war.
Ohja, sie hatten nicht die Spur eines Zweifels daran.”
Sie holte tief Luft und rieb sich dann über die Arme, als würde plötzlich die Temperatur um mehrere Grad abfallen. „Und das war noch viel schlimmer...
Mit faulen Früchten haben sie mich aus der Stadt gejagt, verflucht und verwünscht. An dem Tag habe ich gelernt, dass Menschen hier verachtet werden. Scheinbar war in der Geschichte etwas vorgefallen, was ihre Wut auf die Menschheit bis heute schürte. Ich wusste nur eines; es machte keinen Unterschied, ob sie mir glaubten, dass ich ein einfacher Mensch war oder ob sie mir vorwerfen zu lügen. Sie halten mich für ein Monster.
Sie hassen mich.”
Emilia wusch sich mit dem Handrücken über die Augen und schniefte. „Warum hat er mich auch einfach allein gelassen? Wie konnte er mir nur das Leben retten und mich dann dort im Nichts zurücklassen? Wieso? Er hatte mir doch versprochen, mich nicht allein zu lassen… Er hat es versprochen… und ich dumme Nuss habe ihm doch vertraut.”
Er? Nevra verstand nicht, von wem sie sprach, aber er wollte auch nicht nachhaken. Sie war ohnehin schon völlig aufgelöst.
Die im Wind reibenden Blätter waren das einzige, was ihr Schluchzen übertönte.
Nevra brauchte einen Moment, um seine Gedanken zu sammeln. Etwas in der Art hatte er schon befürchtet, denn die Lage in den Dörfern war ziemlich angespannt. Er wusste auch, dass die Geschichte der Menschen und Fairys sich nicht gerade durch eine lange wohlwollende Freundschaft, sondern durch Hetze und Verbannung auszeichnete, was letzten Endes in die Gründung dieser Welt, Eldarya, resultierte. Er selbst verstand die Gefühle der Fairys, aber nicht das, was sie einem verängstigten Mädchen angetan haben.
„In dieses Lager zu kommen war das größte Glück”, sagte sie schließlich und schluckte ihre Trauer herunter. „Ich wollte noch einmal von vorn beginnen… Nicht mehr diesen hasserfüllten Blicken ausgeliefert sein. Aber ich habe das Gefühl, es ist völlig umsonst. Ich passe nirgendwo rein. Etwas in mir weigert sich zu kämpfen. Ich bin wohl nicht so stark wie ich immer gedacht habe.”
Mit diesen Worten verstummte sie wieder, schien keine Antwort zu erwarten und lehnte sich mit geschlossenen Augen gegen den Baumstamm.
Nevra wusste nicht, was die anderen davon halten würden, dass sie ein Mensch war. Er wusste ja selbst nicht, was er davon halten sollte. Doch jetzt lag es an ihm, erst einmal etwas wichtiges klarzustellen.
„Spielt doch keine Rolle, ob du in Wahrheit ein Mädchen bist oder ein schwaches Menschlein”, sagte er und legte ihr vorsichtig den Arm um die Schulter. „Im Augenblick bist du ein Rekrut der Schattengarde und unterstehst damit meiner Aufsicht. Das ist das einzige, was zählt.”
Sie erstarrte und schielte vorsichtig zu ihm hoch. Ihre Augen waren rot unterlaufen und ganz glasig. Doch bei seinen Worten begann ihr Herz schneller zu schlagen und der Duft ihres süßen Blutes wehte ihm um die Nase. Es erinnerte ihn schmerzlich daran, dass nicht nur sie kraftlos war.
„Das heißt, du hasst mich nicht?”, fragte sie. „Du wirst mich nicht wegschicken?”
„Na hör Mal“, Nevra rieb ihr über den Kopf wie einem unartigen Kind, bis ihr die Haare nach allen Seiten abstanden. „Hast du eine Ahnung, wieviel Zeit ich in dich investiert habe? Du schuldest mir was und außerdem...”
Ein Stich zog durch Nevras Brust. Scheinbar war sein Schmerz realer, als er es sich hatte eingestehen wollen. Wie kleine Nadelstiche fuhr es ihm durch den Oberkörper, doch er versuchte sich nichts anmerken zu lassen. „... So leicht kommst du mir nicht davon, Em…”
Unschlüssig sah er zu Emilia herab, bevor ihm schwarz vor Augen wurde und er vornüber in ihren Schoß sackte.
Letzte Änderung durch Ama (Am 30.01.2022 um 18.52 Uhr)