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#101 Am 30.10.2022 um 20.58 Uhr

Shadowgarde
Ama
Rookie
Ama
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Nachrichten: 91

Geneigte Leserschaft,
mit diesem Part endet das vierte Chapter!
Und mit ihm wird ein Teil der Geheimnisse um die Bestie gelüftet.
Ich hoffe, dass ich das fünfte und letzte Chapter bis nächste Woche fertig geplant kriege, ansonsten müsste ich den Upload des nächsten Parts etwas verschieben.
In jedem Fall danke ich für eure Treue. Das gibt mir Mut und Durchhaltevermögen!
Viel Vergnügen
Ama

>> Chapter IV: Emil und Emilia
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Part 31: Der Pakt



Nur Vermutungen.
Alles, was ich anstellen konnte, waren nichts als Vermutungen. Vermutungen eines Menschenmädchens, das erst vor Kurzem in dieser Welt gelandet war und selbst so banale Dinge wie Zauber und Pakte nicht verstand. Doch vielleicht war diese Unwissenheit keine Schwäche.
Vielleicht erlaubte mir mein unbefangener Blick Dinge zu erkennen, die den meisten Eldaryanern verwehrt blieben.
Entweder das oder ich machte mich gleich richtig zum Gespött.
Ganz egal.
Manchmal musste man einfach auf sein Bauchgefühl vertrauen. 
„Meine Frage“, wiederholte ich mutig. „Sie betrifft die Zerstörung der Dörfer.“
Lih nickte, als hätte er etwas in der Hinsicht erwartet. „Lass mich raten: Du willst mich fragen, ob Lillif mit der Bestie zusammenarbeitet?“
Diesmal war ich es, die seine Gesichtszüge genau beobachtete, während ich den Kopf schüttelte. „Ich weiß, dass du die Frage verneinen würdest.“
„So?“ Seine Stimme klang noch immer arrogant, aber da war kein Grinsen mehr in seinem markanten Gesicht.
Daher nickte ich selbstbewusst. „Ja, ich denke, ich habe dich durchschaut.“
„Durchschaut?“, wiederholte er und hob beinahe erleichtert einen Mundwinkel. „Willst du mich etwa fragen, ob ich mit der Bestie zusammenarbeite?“
Zugegeben, Lihs Rolle bei der ganzen Sache gab mir am meisten zu denken. Doch ich konnte ausschließen, dass er selbst in die Angriffe verwickelt war. Es gab keine Berichte über Blitze, Donner oder sonstiger Elektro-Schocks. Außerdem konnte ich ihm ansehen, dass ihn die bloße Vermutung, dass er mit der Bestie unter einer Decke steckt, unglaublich zu amüsieren und nicht im Geringsten zu beunruhigen schien. Ganz im Gegenteil.
Er schien es fast zu provozieren, dass ich danach frage.
Was hieß… dass ich auf keinen Fall darauf hereinfallen durfte. Daher ließ ich mich von ihm nicht aus dem Konzept bringen. „Ich glaube eher, du hast dich auf dieses Spiel eingelassen, weil du nicht davon ausgegangen bist, dass ich die richtige Frage stellen würde. Dein Plan wäre vielleicht auch aufgegangen, wenn deine herablassende Art mich nicht auf eine Idee gebracht hätte. Manchmal muss man nämlich genau die Annahmen hinterfragen, die man für selbstverständlich hält. Denn manches ist nicht so simpel wie es auf den ersten Blick scheint. Und es gibt tatsächlich eine Sache, die für jeden so klar zu sein scheint, obwohl dafür eigentlich nie ein Beweis erbracht worden ist.“
Während ich sprach, trat ich näher auf ihn zu, um direkt vor ihm Platz zu nehmen. Ich genoss es ein bisschen, seine selbstgefällige Fassade bröckeln zu sehen. „Weißt du, ich bin der Bestie selbst nie begegnet, doch ich habe die Auswirkungen der Brände gesehen. Ich kenne die Geschichten der Flüchtlinge und die Ermittlungen der Garde. Bei jedem Angriff war es stets der gleiche Ablauf: Fremde kamen in das Dorf und mitten in der Nacht brach ein Feuer aus. Die Leute flohen und erblickten dabei die Bestie, die durch das brennende Dorf streifte und blonde Mädchen entführte. Die Sache ist nur die: Keiner hat je davon berichtet, wie die Bestie das Feuer gelegt hat.“
Lihs Blick blieb völlig regungslos, während ich sprach. Doch ich konnte genau sehen, wie sich die Ader auf seinem Hals schneller bewegte. Dabei wurde mir langsam etwas bewusst. Die Bedingungen des Paktes besagten, dass wir für die Dauer des Paktes einander nicht anlügen konnten. Das hieß, dass er mir in dieser Zeit generell nichts vormachen konnte - selbst wenn ich ihn nicht direkt nach der Wahrheit fragte. Vielleicht hatte er deswegen seine Mimik auch etwas weniger im Griff als sonst.
Es kostete mich nun kaum Mühe, seinen bohrenden Blicken standzuhalten, denn jedes Bisschen Ärger in seinem Gesicht bestärkte mich nur in meiner Vermutung. Vor allem, nachdem ich die folgenden Worte endlich laut aussprach: „Aus diesem Grund glaube ich, dass die Bestie gar nichts mit den Bränden in den Dörfern zu tun hat. Ferner halte ich es für möglich, dass sie nach dem Schuldigen sucht. Es wäre also durchaus möglich, dass sie die blonden Mädchen deshalb entführt, weil die Bestie die Schuldige unter ihnen vermutet.“
In meiner ersten Nacht in Eldarya war Val es gewesen, der mich gelehrt hatte, dass man einem Wesen nicht ansehen konnte, ob es böse war. Ob er je davon ausgegangen wäre, dass jemand diese Schlussfolgerung je auf die Bestie übertagen würde?
Lih wollte etwas erwidern, doch die Worte kamen ihm nicht so recht über die Lippen.
Ehe er sich wieder fassen konnte, lehnte ich mich noch ein Stück näher zu ihm vor. „Ehrlich. Ich habe keine Ahnung, was du davon hast, alle Welt in diesem Glauben zu lassen, wo du doch die Wahrheit genau zu kennen scheinst. Aber jetzt gibt es kein Zurück mehr. Also sag mir; kann es sein, dass Lillif für die Brände der Dörfer verantwortlich ist und nicht die Bestie?“
Lihs Zähne bohrten sich in seine Unterlippe, bis etwas Blut von diesen auf sein Kinn tropfte.
Doch letzten Endes hatte es keinen Zweck.
„Ja“, spie er es aus, als käme ihm die Wahrheit hoch wie verdorbenes Essen. „Lillif allein ist für die Brände der Dörfer verantwortlich.“
Mein ganzer Körper begann zu zittern, als ich die Bestätigung aus seinem Mund hörte.
Obwohl ich so überzeugt davon war, konnte ich es immer noch nicht glauben. „Aber wieso hast du dann die Mädchen…?“
„Deine Fragen enden hier!“ Seine Stimme donnerte durch den Raum, sodass ich automatisch verstummte.
Es stimmte. Meine Fragen waren aufgebraucht. Doch eigentlich war mir das gleich.
Ich würde Lih nicht vom Haken lassen.
Damit würde ich ihn nicht davonkommen lassen.
Lih sah meine verbissene Miene und zog mich am Kragen zu sich heran. „Du fühlst dich schlau, was? Doch glaubst du wirklich, dass ich diese Möglichkeit nicht mit einkalkuliert habe? Du schnüffelst hier in Lillifs Sachen herum… Du hast das Zimmer oben entdeckt… Meinst du echt, ich hätte dich mit dieser Entdeckung gehen lassen, selbst wenn du der Wahrheit nicht auf die Schliche gekommen wärst?“
Das wurde mir zu bunt. Bevor er weitersprechen konnte, schlug ich seine Hand beiseite und sprang vom Couchtisch auf. Allerdings kam ich nicht bis zur Haustür.
Verwundert drehte ich mich um.
Doch Lih war nicht einmal in meiner Nähe. Er stand gerade auf und warf mir einen undefinierbaren Blick zu.
Wieso konnte ich mich bloß nicht weiterbewegen?
Die Tür war doch genau vor meiner Nase. Es fehlten vielleicht zwei Schritte. War das irgendeine Magie?
„Lass mich gehen“, forderte ich.
Lih grinste und kam einen Schritt auf mich zu.
Ich spürte, wie der Druck nachließ und eilte mit einem Bein voran – nur um dann vor demselben Problem zu stehen. Ich kam wieder nicht weiter. Es trennte mich genau ein Schritt von der Tür. Verzweifelt griff ich nach vor, doch ich konnte den Knauf einfach nicht erreichen. Stattdessen bemerkte ich, wie das Mal auf meiner Hand wild zu glühen begann.
„Der Pakt“, erinnerte Lih. „Du kannst nicht vor mir fliehen. Nicht solange bis ich meine übrigen zwei Fragen gestellt habe. Solange sind wir wohl auf zehn Schritte aneinandergefesselt.“
Das war doch ein Witz, oder?
„Verdammt“, knurrte ich und lief zu ihm zurück. „Dann stell schon deine Fragen!“
Doch da war es wieder. Dieses süffisante Grinsen auf seinem Gesicht, während er genüsslich die Arme vor seiner Brust verschränkte.
Natürlich.
„Du hattest nie vor, mir drei Fragen zu stellen, oder?“, schussfolgerte ich fassungslos. „Dieser ganze Handel, der Pakt…“
„… diente dazu, dich an mich zu binden“, beendete er den Satz. „Ja, ganz richtig.“
Meine Hände ballten sich fest zusammen. Ich bin echt auf ihn hereingefallen. Von wegen, er wollte mich nur testen. Ganz gleich, wie unser Fragespiel auch ausgegangen wäre, er hatte mich damit nur ködern wollen, um mir diesen Pakt aufzuschwatzen.
„Weißt du“, Lih griff nach seinem Stock, „dieses Mal wird es deutlich schwerer sein, aus dem Berg zu entkommen.“
„Ich kann dir das Leben auch so zur Hölle machen“, knurrte ich. Doch eigentlich war es nicht die Wut, die aus mir sprach. Es war Panik.
Vielleicht begann meine Stimme deswegen unkontrollierbar zu zittern. „Ich habe es schon einmal gesagt; es gibt jemanden, dem ich helfen muss und davon wird mich nichts und niemand abhalten können. Das hast du bisher nicht geschafft und das wirst du auch in Zukunft nicht schaffen. Ich werde immer einen Weg finden, zu entkommen. Und wenn ich dich direkt bekämpfen muss.“
„Und wie willst du gegen mich ankommen?“, fragte er und tippte auf seinen Stock, als müsse er mich daran erinnern, wie gewaltig seine Macht doch war. „Soweit ich mich recht entsinne, hast du deine Kräfte doch nicht unter Kontrolle.“
Ich hielt inne. Hatte er sich deshalb in seiner ersten Frage auf meine Kräfte bezogen? Wollte er wissen, wie gefährlich ich ihm werden konnte?
Er hat das wirklich gut durchdacht. Das musste man ihm echt lassen.
Und wenn ich eines aus zehn Jahren Pokémon-Spiel gelernt hatte, dann war ich ihm gegenüber in Punkto Level, Erfahrung und Element auch deutlich im Nachteil. Aber das würde mich nicht davon abhalten, zu kämpfen, um zu Chrome zurück zu gelangen. So viel stand fest.
„Ich würde mich an deiner Stelle nicht darauf verlassen, leichtes Spiel zu haben“, erwiderte ich und funkelte ihn entschlossen an. „Du hast doch gesehen, wie es dir ergehen kann, wenn du mich unterschätzt. Auch wenn ich diese Kraft noch nicht verstehe, vertraue ich darauf, dass sie mich weiterhin beschützen wird.“
„Du bist naiv“, sagte er und rieb sich die Stirn. Irgendetwas in meinen Worten schien ihn aber nachdenklich zu stimmen.
„Nun“, er seufzte schließlich. „Vielleicht finden wir auch ein Arrangement, das uns beiden nützt. Du magst mir das vielleicht nicht glauben, aber ich habe keinen persönlichen Spaß daran, dich einzusperren und durchzufüttern. Essen in Eldarya ist immerhin spärlich rationiert.“
Tatsächlich war das eine der wenigen Sachen, die ich ihm sofort glaubte. Nicht zuletzt, weil er immer noch unter der Wirkung des Paktes stand und mich nicht belügen konnte. Irgendwie war das schon ulkig. Ich hatte das Gefühl, wir spielten endlich mit offenen Karten. Und vielleicht hatte ich kein so schlechtes Blatt wie ich vor wenigen Minuten noch befürchtet hatte.
„Da ich dich nicht laufen lassen kann, wirst du mir wohl erzählen müssen, wen du retten willst“, sagte er.
„Du könntest raten und mich fragen“, erwiderte ich.
Lih lachte. „Netter Versuch. Aber das wird wohl nicht passieren. Die letzten beiden Fragen werde ich mir aufheben. Wenn du also wohin möchtest, solltest du mich überzeugen, dich zu begleiten. Ansonsten sitzen wir hier fest, bis einer von uns beiden den anderen überrumpelt und mit sich schleift.“
Dass ich es darauf ankommen lassen würde, schien er wohl an meinem Gesicht ablesen zu können, denn bevor ich etwas erwidern konnte, kramte er in seinem Mantel und zog dann ein gefaltetes Papier heraus. Es war schon etwas verblichen. Vermutlich, weil es lange der Witterung ausgesetzt war, doch ich erkannte es sofort. Es war eines der Fahndungsposter, auf dem mein Gesicht abgebildet war.
„Deiner Reaktion nach zu urteilen, weißt du was das ist“, erklärte er schmunzelnd. „Dann lag ich mit meiner Vermutung also richtig. Die Garde von Eel sucht nach dir. Du musst echt was ausgefressen haben, dass sie den halben Wald damit zukleistern. Weißt du, ich habe etwas recherchiert. Die Leute reden erstaunlich viel, wenn sie sauer sind. Es heißt, du seist abgehauen, weil du für den Tod eines Wolfsjungen verantwortlich bist.“
„Er ist nicht tot“, knurrte ich sofort.
Lih grinste. „Sag bloß, du willst die Sache noch zu Ende bringen?“ Er hielt mich auf Abstand, als ich ihm an die Gurgel wollte. „Ach stimmt, du meintest, du wolltest jemanden retten. Ich schätze, du meintest ihn.“
Widerwillig nickte ich. Tatsächlich konnte ich nicht lügen. Der Pakt verhinderte es. Aber ich konnte zumindest die Details verschweigen, wenn er nicht direkt nach ihnen fragte.
„Vielleicht“, er hob mich am Kinn zu sich heran. „Kommen wir doch zusammen… Ich meine natürlich geschäftlich.“
Ich kniff die Augen zusammen, während er mich mit einem intensiven Blick musterte. Der hatte echt Nerven, jetzt solche Witze zu reißen. Allerdings hatte Lih ein recht überzeugendes Argument, welches er mir einem Blick durch das Fenster offenbarte. Auf der Straße stand ein großes schwarzes Reittier.
„Mein Rawist kann uns noch heute ins Lager der Garde bringen“, flüsterte Lih in mein Ohr. „Na, was sagst du?“
Skeptisch hob ich eine Augenbraue.
Das war eine Falle. Definitiv. Doch dieses Mal wartete Lih nicht, bis ich nach dem Haken fragte. Er nannte ihn sofort. „Du wirst dort aber nicht als falscher Junge aufkreuzen, sondern als falsche Blondine.“
An der Stelle fragte ich mich schon, ob ihm eigentlich bewusst war, wie absurd diese Forderung war. Ich meine wegen dieser Frau wurde das Lager doch erst errichtet. „Du willst, dass ich als Lillif ins Lager der Garde einmarschiere?“

Letzte Änderung durch Ama (Am 01.11.2022 um 13.34 Uhr)

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#102 Am 06.11.2022 um 13.06 Uhr

Shadowgarde
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Was bisher geschah





>> Chapter V: Tausend Lichter
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Part 1: Eingebildet



Als Valkyon an diesem Abend in Mercedes Haus zurückkehrte, brauchte er vor allem eine Dusche. Er fühlte sich, als würde der gesamte Tag in jeder Faser seines Hemdes und in jeder Pore seiner Haut zu kleben. Dabei wog all der Staub, Ruß und Schweiß, den er bei den endlosen Befragungen und Erkundungen der Dorfruinen angesammelt hatte, schwerer auf seinen Knochen als die Reste seiner Rüstung. Vielleicht, weil nichts von dem, was er heute erfahren hatte, irgendeinen Sinn zu ergeben schien.
Die Untersuchung des zerstörten Dorfes mündete in einem einzigen Widerspruch.
Noch immer wollte niemand eine Bestie gesehen haben, es gab auch keine Spur, die darauf hingedeutet hätte, dass ein haushohes Wesen dort sein Unwesen getrieben hätte – und doch sahen die Brandspuren eindeutig so aus wie die bei den übrigen Brandplätzen, die Valkyon bisher untersucht hatte. Zudem war der Ursprung des Feuers wieder eine Unterkunft für Reisende gewesen. Das war nicht nur irgendein Zufall. Der Brand hing mit den Vorigen zusammen.
Doch es war seltsam, dass seit Tagen schon niemand mehr die Bestie gesehen hatte. Als ob sie plötzlich vom Erdboden verschluckt worden sei. Entführungen gab es in letzter Zeit auch keine. Und doch gingen die Angriffe munter weiter, als wäre dieses Biest noch ganz in der Nähe.
Valkyon schüttelte den Kopf und lief ins Bad, wo er seine schmutzige Kleidung in einen Eimer zum Einweichen legte. Es war wahrscheinlich vergebens, sich ausgerechnet jetzt den Kopf darüber zu zerbrechen, denn im Augenblick war er nicht unbedingt auf der Höhe.
Die Bestie war schließlich nicht das einzige, was ihm durch den Kopf ging.
Mit einer Hand fuhr er über den Verband, der sich von seinem Rücken bis zu seiner Brust spannte, ehe er ihn vorsichtig löste. Es war nicht fachmännisch bandagiert worden, hatte aber den Tag über ziemlich gut gehalten.
Am Spiegel inspizierte Valkyon dann die Wunde an seiner Schulter. Diese war so sauber vernäht worden, dass vermutlich nur eine schmale Narbe verbleiben wird. Anscheinend kannte Lillif sich mit der Wundversorgung wirklich besser aus, als er immer gedacht hatte. Die Verletzung schmerzte nicht einmal. Und doch kribbelte seine Haut, als spürte er noch immer ihre Finger darüberstreichen.
Ein Schauer glitt ihm über den Rücken, als er daran dachte, dass eine durchgeknallte Bestie, deren grausame Taten sich für alle Zeit in die Geschichtsbücher Eldarya eingebrannt hatten, ihn nicht so sehr um den Verstand brachte, wie eine flüchtige Berührung von…
ihr.
Ob Lillif ihm irgendein ein Mittel verabreicht hatte, dass Halluzinationen hervorrief? Wie sonst hatte sie es geschafft, so tief in seinem Geist zu wühlen, um derartige Gefühle in ihm auszulösen?
Mit Lillif selbst hatte es in jedem Fall nichts zu tun. Valkyon könnte sich niemals zu einer Frau hingezogen fühlen, die ihn schon mehrfach vergiftet und belogen hatte.
Wahrscheinlich war da noch mehr in dem Tee gewesen als nur ein Schafmittel. Es würde zumindest erklären, warum er das Gesicht des Menschenmädchens in Lillifs Körper gesehen hatte; in der Nacht, wo sie ihm im Keller das Leben gerettet hatte. Die Nacht, in der er fast verdurstet wäre. Und warum er gestern immer an sie denken musste. Selbst jetzt…
Grummelnd griff Valkyon nach der Handpumpe der Duschanlage, um das Reservoir über der Dusche langsam mit Brackwasser zu füllen.
Das Leitungssystem in Balenvia war einfach, aber effektiv. Während durch die Rohre Meerwasser floss, um alle Sanitäranlagen zu bedienen, konnte im Brunnen auf dem Marktplatz frisches Trinkwasser herangeschafft werden.
Ein Glück hatte er sich um das Problem mit den Verunreinigungen im Brunnen gekümmert. Das einzige, was er in den letzten Tagen wirklich zustande gebracht hatte. Auch wenn es eigentlich Lillif war, die ihn dazu angestachelt hatte. Schon wieder so eine Ungereimtheit.
Valykon pumpte weiter an dem Hebel, während er über Lillifs gestriges Verhalten nachdachte.
Ihre entschlossenen Blicke, ihre schüchterne Körperhaltung – und ihre rosigen Wangen.
War das wirklich alles nur eine Show gewesen?
Als plötzlich der Hebel der Pumpe abbrach, war Valkyon jedoch sicher, dass er sich in Gedanken schon wieder im Kreis drehte. Es wurde echt Zeit, dass er das hinter sich ließ. Also sprang er kurzerhand unter das Wasser, was aus dem Reservoir geschossen kam, da er es versehentlich bis zum Platzen gefüllt hatte, und wusch sich den Tag vom Leib.
Zumindest fühlte er sich nach dem Duschen wieder etwas frischer im Kopf.
Er verließ das Bad, um sich unten etwas zu essen zu machen, als ihm auffiel, dass der Boden vor dem Geländer der ersten Etage ziemlich nass war. Zudem war da eine Spur auf dem Parkett, als wäre etwas oder jemand gegen das Geländer gekracht.
Ein Umstand, den er jedoch nur mit einem Schulterzucken zur Kenntnis nahm. Lillif hatte vermutlich wieder etwas verschüttet. Und dem gestrigen Eindruck nach schien sie auch noch ziemlich tollpatschig geworden zu sein. Gut möglich, dass sie einfach ausgerutscht war.
Da Valkyon es inzwischen schon gewohnt war, hinter Lillif herzuräumen, um Mercedes Haus in Ordnung zu halten, holte er einige Handtücher, um den Boden trocken zu legen.
Zu seiner Verwunderung begannen die Tücher jedoch zu glitzern, als er sie in die Lache legte und sie sich vollzusaugen begannen.
Eine Reaktion, die normales Wasser eigentlich nicht verursachte. Valkyon schnupperte an der Flüssigkeit, doch sie gab keinen sonderbaren Geruch von sich. Er kostete vorsichtig.
Das war wirklich nur Wasser.
Der Geschmack war sogar erstaunlich mild und beinahe prickelnd.
Sofort schossen ihm Erinnerung an die Nacht im Keller in den Kopf, als er von einem Wasser mit derselben kristallreinen Klarheit gekostet hatte.
Allerdings sperrte er die Gedanken zusammen mit den durchgeweichten Stoffen ins Bad, ehe sie ihn erneut durcheinander bringen konnten. Wenn er wieder zu Kräften kam, dann hörten diese Halluzinationen sicher auch von allein wieder auf.
Daher machte er sich ans Essen.
Zum Glück hatte er heute wieder alte Brotreste aufgetrieben, die er anbraten konnte.
Doch obwohl er sich beim Kochen Zeit ließ, blieb es still im Haus. Von Lillif war noch immer weit und breit keine Spur zu sehen. Ob sie noch bei ihrer Arbeit war?
Kopfschüttelnd füllte Valkyon etwas von dem Essen in eine zweite Schüssel.
Dass jemand, der so eingebildet war wie sie, überhaupt eine Arbeit gefunden hatte, grenzte schon ein Wunder. Immerhin hatte er so seine Ruhe.
Fürs Erste war es wirklich besser, wenn sie sich aus dem Weg gingen.
Theoretisch.
Praktisch fand sich Valkyon wenige Minuten später mit einer zweiten Portion Essen vor ihrer Zimmertür wieder.
Seine Füße hatten scheinbar ein Eigenleben entwickelt.
Nun. Wenn er schon da war, konnte er ihr das Essen auch ins Zimmer stellen. Übrig war es ohnehin. Und dann hatte sie auch keinen Grund, heute noch einmal durch das Haus und ihm über den Weg zu laufen.
Da auf ein Klopfen niemand reagierte, trat er vorsichtig ein. Auch wenn er Mühe hatte, die Tür aufzuschieben. Wie zu erwarten lagen eine Menge Sachen im Raum verstreut. Das meiste davon war Kleidung, die nicht mehr in den Schrank zu passen schien.
Es hatte Valkyon noch nie interessiert, aber Lillif hatte unglaublich viel Maana besessen, bevor sie es für den ganzen Kram ausgegeben hatte. Als hätte man sie direkt nach einem Banküberfall bei Purriry ausgesetzt. Allerdings hatte es gestern nicht so gewirkt, als würde sie einen Job nur deshalb annehmen, um sich noch mehr Kleidung kaufen zu können. Doch wie gesagt. An sich war das Valkyon völlig egal.
Mit bedächtigen Schritten suchte er seinen Weg bis zu einer Kommode, wo er das Essen abstellte, ehe er sich wieder auf den Rückweg machte.
Bis er plötzlich mit dem Fuß auf etwas Hartes trat, das zwischen der am Boden liegenden Kleidung vergraben lag. Verwundert hob Valkyon die Sachen auf, ehe er den dunkelroten Stoff erkannte.
Lillif hatte das getragen, als sie ihn im Keller vorsorgt hatte.
Doch das, worauf er getreten war, war nicht die Kleidung selbst, sondern etwas, das daran befestigt war. Ungläubig nahm Valkyon den Dolch an sich, der an der Halterung eines Strumpfes befestigt war. Der sah genauso aus wie sein Dolch.
Nein. Das war sein Dolch.
Es fehlte sogar einer der Mondsteine am Griff, die er damals benutzt hatte, um das Grookhan zu besänftigen, als er mit dem Menschenmädchen unterwegs war. Valkyon schluckte bei der Erinnerung. Wie auch immer. Er dachte schon, er hatte den Dolch verloren - oder viel eher, samt seiner Beinplatten bei dem Menschenmädchen gelassen.
Hatte Lillif ihn die ganze Zeit gehabt?
Ein Quieken am Boden lenkte Valkyons Aufmerksamkeit zu dem Gefährten, der sich eifrig seinen Weg zu ihm gewühlt hatte. Die Musarose hatte sich scheinbar inzwischen gut erholt und begann nun an den am Boden liegenden Sachen zu knabbern.
Vermutlich hatte sie Hunger.
Valkyon suchte in seiner Tasche nach der Phiole mit der Gefährtennahrung, bis Floppy plötzlich aus dem Zimmer rannte. An der Tür drehte sie sich noch einmal zu ihm und reckte mehrmals ihre Nase in die Luft. Hatte sie etwas entdeckt?
Sofort eilte Valkyon hinterher. Irgendwas wollte die Musarose ihm wohl zeigen.
Schließlich hielt sie vor einer Tür neben dem Bad an. Valkyon war an dem Zimmer bisher immer vorbeigelaufen, da es eh verschlossen war, doch er sah schon an der Verankerung der Scharniere, dass die Tür vor Kurzem geöffnet wurde.
Vorsichtig hob er Floppy auf seine Schulter, ehe er einen Blick in das Zimmer wagte. Zwar schien ihn von innen keine Gefahr zu erwarten, doch beruhigt war er keineswegs.
Das Zimmer war völlig ausgebrannt. Ehe Valkyon die Musarose aufhalten konnte, sprang Floppy von seiner Schulter und huschte durch die Asche zu einer Zimmerecke.
Valkyon folgte ihr, während sein Blick durch den Raum streifte. Es erinnerte ihn an das Gefühl, was er hatte, wenn er vor Dorfruinen stand.
Floppy schien ihn aber zu einer bestimmten Stelle zu lotsen, denn sie begann zu fiepen, als er grade innehalten wollte, um seine gesuchte Beinschiene vom Boden aufzuheben.
Dabei war die Stelle, auf die Floppy wies ebenfalls komplett mit Asche bedeckt.
Doch in diesen Haufen hatte jemand Wörter gegraben. „Lillif ist gefährlich“, las er langsam vor. „Bitte suche mich, Val.“
Noch bevor Valkyon überhaupt einen klaren Gedanken fassen konnte, entdeckte er sein Hemd daneben liegen. Obendrauf war sogar ein kleiner Zettel gelegt worden.
Allerdings konnte er sich auf die Nachricht in dem Zettel keinen Reim machen. Der Brief war von Ewelein geschrieben und an einen Emil gerichtet.
„Wer ist denn Emil?“, murmelte er und versuchte aus den gefundenen Hinweisen schlau zu werden. Und wer hatte ihm diese Nachricht hinterlassen? War das Lillif? Sie hatte das Hemd immerhin gestern getragen.
Doch warum sollte Lillif schreiben, dass sie gefährlich sei?
Oder überhaupt von sich in der dritten Person sprechen? Ganz zu schweigen vom Zustand dieses Zimmers. Hatte das etwas mit der Bestie zu tun? War sie etwa hier gewesen?
Valkyon war gerade ganz in seinen Gedanken versunken, als er schließlich Floppy auf sich zutapsen hörte. Die Musarose zog etwas hinter sich her, das durch die Asche schleifte.
„Bei den Sylphen!“, langsam rutschte Valkyon auf den Boden, als er erkannte, was Floppy da zu ihm trug. Es war die Bandage, die Valkyon dem Menschenmädchen als Gürtel umgelegt hatte, damit das große Blatt nicht rutschte, was sie damals um ihren Körper geschlungen hatte, während ihre eigene Kleidung trocknete.
Floppy sah aufgeregt zu ihm hoch, doch Valkyon verstand auch so. Wenn die Bandage hier war, dann nur aus einem einzigen Grund.
Die kleine Göre, die er aus dem Meer gezogen hatte. Sie lebte.
Vielleicht hatte Valkyon sich doch nichts von dem eingebildet, was gestern passiert war.
Und sie war wirklich hier.
Floppy sprang in die Luft und dann auf ihn zu, als würde sie seine Freude teilen.
Doch.
Valkyon sah zurück auf die Nachricht in der Asche. Es gab nicht viele Leute, die ihn Val nannten. Es hatte ihn eh gewundert, dass Lillif ihn plötzlich so nannte. Also hatte mit Sicherheit das Menschenmädchen ihm diese Nachricht in die Asche geschrieben und diese Notiz dagelassen.
Auch wenn Valkyon nicht verstand, wie das Ganze mit Ewelein, der Garde, Chrome oder diesem Emil zusammenhing. Aber er würde dem nachgehen.
Sie musste ihn nicht erst darum bitten, sie zu suchen.
Das tat er doch ohnehin schon die ganze Zeit. Die Spur zur Schmiede, zum Tempel. Er war jedem noch so kleinen Hinweis gefolgt, um sie wiederzufinden.
Sonst hätte er sich nie auf Lillif eingelassen.
Auch wenn es am Ende wohl sie war, die ihn gefunden hatte.
„Sieh mich nicht so an“, sagte Valkyon, als die Musarose den Kopf schieflegte. „Ich weiß, ich hätte vorher auf dich hören soll.“
Floppy quiekte und er hob sie zurück auf seine Schulter. „Keine Sorge. Ich zweifele nie wieder an dir.“
Entschlossen eilte Valkyon in die Küche, um sich etwas für die Reise einzupacken. Wahrscheinlich war er die ganze Nacht unterwegs, um ins Lager zu kommen. Doch es hielt ihn keine Minute mehr auf der Stelle. Auch Floppy schien aufgeregt und fit genug, die Reise anzutreten.
Doch gerade, als Valkyon einen kleinen Proviant zusammengepackt hatte, hörte er die Haustür ins Schloss fallen. War sie doch hier?
„Hey, Valky“, trällerte eine melodiöse Stimme, ehe ein blonder Schopf in der Küchentür auftauchte. „Ich habe dich schon vermisst.“

Letzte Änderung durch Ama (Am 10.11.2022 um 06.23 Uhr)

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#103 Am 08.01.2023 um 15.04 Uhr

Obsidiangarde
Meria
Elf Sidekick
Meria
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Hallo Ama ^^/

Wenn man mitten am Tag das Licht anmachen muss. ._.
Kein Wunder das ich nicht munter werde und antriebslos bleibe. >.>
Möge der Mai kommen...da ist es warm, schön und das neue Zelda kommt raus. :D

Nochmal zum Wasser in D oder auch der Welt... Das mit dem Trinkwasser, was in D für alles benutzt wird, finde ich auch jedes Mal wieder furchtbar. >_< Ich sammle schon Haarewaschwasser und benutze das noch mal.
Ich finde ohnehin einiges interessant was die Römer oder auch Ägypter damals alles schon geleistet haben aber über die Jahre wieder verschwand, leider.

Eldarya stelle ich mir zwar auch eher mittelalterlich vor, da es aber Magie gibt, ist das für mich eher eine bessere mittelalterliche Welt. Man hat Wasser (Leiftans Zimmer) oder ne Wiese im eigenen Zimmer...sie sind sauber und alles ist gepflegt, weswegen ich da halt Unterschiede mache.
Es gibt allerdings auch einige alltägliche Probleme, die ich nicht aufgreifen will, weswegen sie bei mir wegfallen. In meiner FF hatte ich damals ja zB das Essensproblem weggelassen, aber es machte meiner Meinung nach auch einfach keinen Sinn, zumal es immer nur am Rande mal erwähnt wurde und niemand je hungern musste.

So, jetzt aber zur Geschichte. XD
Wie hat Ez denn nun Emil das Leben gerettet...das steht da nicht. D:
Mir kommt da eine Szene aus "Der Prinz der drei Heere: Aneiryn" in den Sinn. Mister "Ich bin voll der Grummel und genau wie Ezarel drauf" schnappt sich sein Prinzchen, als er wegen Fieber glüht und geht mit ihm zum See und hält ihn so lange dort drin, bis es runter geht. Gay-Szene LOM 100. ^////^ <3

Du bist aber auch fiiiiieeees zu Ezi... jetzt hat er n blaues Gesicht? wtf, wiesoooo XD

"Du doof" ist auch mal ne Überschrift. XD
Das ganze Kapitel ist so schöööön. (´꒳`)♡

Uuuuuh, der Pakt ist fies... sie hätte ihm wenigstens ne zweite Frage stellen sollen :/
Ist „Na, was sagst du?“ nicht auch ne Frage? :D

Interessant das mit der Bestie...fragt sich jetzt nur noch wer die Bestie ist und wieso alle Blondinen eingesperrt werden, wenn sie doch eigentlich nicht beschützt werden müssten. ...hm...
Das ist wie beim WW spielen... man sieht nur noch Schuldige an jeder Ecke. >.>
Und warum Lil diese Brände überhaupt legt ist auch noch so ne Sache...einfach nur n Pyromane vermute ich nicht, allerdings auch nur ne Vermutung....
meine komischen anderen Gedanken wer was sein könnte behalte ich mal für mich. XD

Und da ist wohl das blonde Gift wieder? Val...dreh ihr den Hals rum, die soll mit der Wahrheit rausrücken. >.>

noch ein frohes neues Jahr und bis zum nächsten Mal. ^^/

*möchte am liebsten noch mehr Ez/Emil Szenen haben* XD

Letzte Änderung durch Meria (Am 08.01.2023 um 17.03 Uhr)


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#104 Am 15.04.2023 um 22.44 Uhr

Shadowgarde
Ama
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Nachrichten: 91

>> Chapter V: Tausend Lichter
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Part 2: Licht am Horizont



Als wir die Sylphen-Wasserfälle und das Dunkelmoor durchquert hatten, war ich langsam gewillt zu glauben, dass Lih zu seinem Wort stand, mich ins Lager zu bringen.
Der Tag hatte wirklich ein paar Überraschungen parat gehabt.
Ich seufzte in die nieselige Nachtluft hinein. Das Gehölz roch wohlig harzig, doch herzlos funkelte uns so manches Augenpaar durch die Büsche an.
Den Weg durch den nächtlichen Wald hatte ich bisher immer gefürchtet. Selbst jetzt konnte ich hören, wie Wesen aus ihren Verstecken krochen, bei denen man nicht wusste, ob es Segen oder Fluch war, dass man sie nie bei Tageslicht betrachten würde. Vor allem, weil sie einem nur zu gern jede Möglichkeit raubten, je wieder das Licht des Tages zu erblicken.
Im Gegensatz zu mir schien Lih aber wenig besorgt.
Sein Rawist trug uns sogar schneller durch die Nacht als es das Sabali gekonnt hätte, was ich mir ursprünglich vom Wirt hatte mieten wollen. Die größte Gefahr war, dass ich bei dem rhythmischen Galoppieren plötzlich wegnickte.
Denn so bequem der Ritt auch schien, ich wurde das Gefühl nicht los, dass mich der Pakt mit Lih teurer zu stehen kam. 
Zu oft hatte er mich bereits hintergangen. Selbst wenn er mich im Moment nicht belügen konnte, weil das während des Paktes für uns beide nicht möglich war, waren mir seine Motive noch immer völlig schleierhaft. Sollte ich einschlafen, war es nicht von der Hand zu weisen, dass ich wieder in einer Zelle aufwachte.
Lih war da kein Deut vertrauenswürdiger als Lillif und vielleicht sogar noch gefährlicher.
Ich meine, obwohl Lillif Dörfer in Brand legte, schien sie mehr Angst vor Lih als vor der Garde zu haben. Es würde mich nicht wundern, wenn sie mich nur deshalb als ihren Doppelgänger benutzt hatte, um Lih zu entkommen.
Der Typ war wirklich ein ganz anderes Kaliber.
Selbst Lihs Rawist wich gerade gekonnt einem Rudel Blackdogs aus, als gäbe es in diesem Wald nichts, was sich ihnen in den Weg stellen konnte.
In dem Moment wurde mir bewusst, wie widersprüchlich Lihs Behauptungen bisher gewesen waren.
Wenn er mit den Angriffen auf die Dörfer nichts zu tun hatte und sogar wusste, wer dahintersteckte, warum unternahm er nichts gegen Lillif, sondern hielt stattdessen die blonden Mädchen in einem Berg versteckt?
Das tat er sicher nicht bloß zu ihrem Schutz. Nein, da musste mehr dahinterstecken. Dass wir nun ins Lager ritten, kam ihm auch verdächtig gelegen. Und dann sollte ich auch noch in Lillifs Aufmachung dorthin.
Irgendwas hatte er vor. Definitiv.
Mit Sicherheit konnte ich aber nur eines sagen: Verraten würde er mir seine Pläne wohl nicht. Viel mehr hatte er noch seine zwei Fragen vom Pakt übrig.
Mein Ärger versiegte jedoch, als ein Schimmer am Horizont meine Aufmerksamkeit auf viele kleine Laternen zog, die eine weit entfernte Mauer erhellten.
Bei dem Anblick schwanden all meine trüben Gedanken.
Denn da vorne lag das Lager der Garde von Eel!
Freude und Erleichterung erfassten mich und ich krallte meine Finger tiefer in Lihs Kutte, an der ich mich den stürmischen Ritt über festgehalten hatte. Meine Aufregung schien sich auf den Rawist zu übertragen, denn dieser fuhr plötzlich zu Höchstleistung auf.
Obwohl ich fast von seinem Rücken flog, jaulte ich vor Freude in die Nacht hinein.
Ich hatte es fast geschafft. Ja, ich. Das kleine Menschlein. Ich hatte einen Sukkubus gefunden, der Chrome retten konnte und ich habe jeder Herausforderung getrotzt, um hierher zurückzukommen.
Chrome wird sicher Augen machen, wenn ich ihm erzählte, was ich auf meiner Reise alles erlebt hatte.
Vielleicht würde Nevra mir dann auch endlich verzeihen…
Ich atmete tief durch.
In dem Moment wurde mir nämlich bewusst, dass ich mich da getrost an meine eigene Nase fassen konnte. Dass Val mich damals im Stich gelassen hatte, tat zwar immer noch weh, aber es wurde Zeit, dass ich meinen Ärger losließ. Bestimmt hatte Val meine Nachricht inzwischen gefunden. Wenn er eins und eins zusammenzählte, dann würden wir uns bald wiedersehen und ich konnte ihn endlich fragen, warum er das getan hatte. Ich spürte mein Herz wild in meiner Brust hämmern, als ich daran dachte.
Es wäre so schön, wenn ich nach all dem endlich neu anfangen könnte.
Morgen waren schließlich die Rekrutenprüfungen. Es wäre meine Chance, einen Platz in dieser Welt zu finden - als Teil der Garde – umgeben von Freunden für den Rest meines Lebens… wie viel auch immer davon noch übrig blieb. Schließlich musste ich 30 Jahre an Sukie zahlen, doch das war es Wert.
Die Hoffnung in mir hellte trotz aller Widrigkeiten auf wie die dutzenden Lichter der Laternen, die am Horizont flimmerten.
Bis Lih auf einmal an den Zügeln riss. Sein Rawist bäumte sich auf, doch er lenkte es unnachgiebig mit einem Ruck vom Pfad ab.
„Warum halten wir?“, fragte ich, als er von seinem Gefährten rutschte und dann zu einer mit Moos bewachsenen Stelle humpelte, wo er ihn an einen nahegelegenen Baum festband.
Ich hatte etwas Mitleid mit dem Tier. Der Baum bot nämlich nur wenig Schutz vor dem nieseligem Wetter. „Gehen wir etwa den Rest zu Fuß?“
„Tun wir nicht.“ Lih hielt mir seine Hand hin. „Wir warten hier bis zum nächsten Tag.“
Ein verärgertes Schnauben entwich meiner Kehle, während ich seine Hand ignorierend vom Rücken des Rawists sprang. Eine dumme Idee – wie mir mein schmerzender Fuß mitteilte - aber das war mir egal.
„Ich werde sicher nicht hier warten“, sagte ich und wollte mich gerade umdrehen, bis Lih meine Hand ergriff, das Gelenk verdrehte, um mir den Handrücken mit dem Pakt-Mal direkt ins Gesicht zu halten.
„Du erinnerst dich aber schon noch, dass du ohne mich nirgendwohin kommst, ja? Ich sage, wir bleiben hier.“
Mein Grummeln schien ihm zu genügen, denn er ließ von mir ab, um sich aus dem Laub und Moos einen Rastplatz für die Nacht zusammenzuschieben.
Ich sah ihm eine Weile zu, bis ich mir eingestehen musste, dass er das ernst meinte. „Wieso ausgerechnet hier? Im Lager gibt es Zelte. Wir könnten uns zumindest einen anständigen Schlafplatz suchen“, versuchte ich ihn zu überzeugen, doch er ließ sich unbeirrt auf dem konstruierten Haufen nieder.
Es hatte wohl absolut keinen Sinn, mit ihm zu diskutieren.
Ihn K.O. zu schlagen und dann ins Lager zu schleifen, war aber auch keine Option. Es sei denn, ich wollte einen Tumult riskieren - falls Lih mich nicht vorher selbst überwältigte.
Vielleicht war es wirklich besser, zunächst mit ihm zusammenzuarbeiten.
„Wie kommen wir dann morgen ins Lager?“, fragte ich und setzte mich auf den kargen Boden ihm gegenüber. „Ist es jetzt in der Nacht nicht besser?“
„Nein.“
Ahja. An seinen Erklärungen konnte er echt noch arbeiten. „Und das heißt?“
Lih seufzte, denn meine Hartnäckigkeit schien er mal wieder unterschätzt zu haben. „Das Lager wird nachts gut bewacht und ich komme mit meinem Bein nicht über die Mauer. Wir werden ausnutzen, dass morgen die Rekrutenprüfung und das Tausend-Lichter-Fest anstehen. Die Rekruten werden am Abend zu müde und der Rest zu betrunken sein, um ihren Wachdienst wahrnehmen zu können. Wenn wir bis zum Einbruch der Nacht warten, dann kommen wir wahrscheinlich ohne jedwede Kontrolle ins Lager.“
Lih kannte sich überraschend gut aus.
Etwas Ähnliches hatte Ewelein in dem Brief auch geschrieben. Aber trotzdem.
„Bis zum Einbruch der morgigen Nacht“, wiederholte ich und zupfte nervös an dem Amethyst meiner Halskette. Das war fast ein ganzer Tag. So wenige Meter von Chrome entfernt zu sein und nicht nach ihm sehen zu können, war Folter. Abgesehen davon wollte ich eigentlich einen Weg finden, um doch noch an der morgigen Prüfung teilzunehmen.
„Was, wenn wir uns als Gäste ausgeben“, sagte ich. „Bei der Prüfung werden sicher auch Bewohner aus den umliegenden Dörfern kommen. Außerdem kann ich mir vorstellen, dass das Fest groß gefeiert wird. In Balenvia haben sie auch schon ordentlich Werbung gemacht. Da können wir uns sicher unauffällig einer Gruppe anschließen, die nur wegen den Feierlichkeiten kommt.“
Doch Lih schien auch von dem Vorschlag wenig begeistert zu sein. Nicht, dass er sich noch die Mühe machte, Gründe zu nennen. Oder überhaupt zu antworten.
Dabei fiel mir auf, dass er dem Lager komplett den Rücken gekehrt hatte.
Irgendwas an seinem Verhalten war sonderbar. Seine sonst so selbstgefällige, zum Teil schon arrogante Art war einem genervten Trübsinn gewichen.
„Man könnte fast meinen, du willst so wenig Zeit wie möglich im Lager verbringen“, schlussfolgerte ich laut.
Sein verächtlicher Blick bestätigte meine Vermutung. Da Lih im Moment nicht lügen konnte, hüllte er sich umso mehr in Schweigen.
Genervt trommelte ich mit den Fingern auf meinen Anhänger.
‚Vielleicht hat er keinen Bock auf seinen Bruder‘, meldete sich eine Stimme plötzlich zu Wort.
Da außer uns niemand hier war und Lih nicht einmal aufsah, war ich wohl die einzige, die sie zu hören schien. Oh man, nicht schon wieder. Das war nicht eine, sondern die Stimme.
Und wovon redete sie überhaupt?
„Bruder?“, echote ich nachdenklich. In dem Moment zuckte Lih plötzlich zusammen.
„Hast du in der Garde wirklich einen Bruder?“, bohrte ich nach.
Sein Stab glitt ihm aus der Hand. „Woher weißt du…?“
‚Das ist wohl ein Ja', feixte die Stimme aufgeregt in meinem Kopf. ‚Frag ihn nach Leiftan.‘
Ich war jedoch zu perplex, um alles auf einmal zu verarbeiten.
„Leif-wer?“, stotterte ich nur.
Lihs Ausdruck wandelte sich derweil von Unglauben zu Unbehagen, während er mich mit schmalen Augen musterte. „Sag mir: Hat Leiftan dir von mir erzählt?“
Ich hob abwehrend die Hände, doch kaum hatte er die Frage gestellt, zog ein schneidender Schmerz durch meinen Kopf.
So überwältigend, dass ich sofort zu einer Antwort ansetzte. Ich verneinte, während die Stimme in meinem Kopf allerdings zeitgleich bejahte.
Doch daran vergeudete ich kaum einen Gedanken, denn mir dämmerte allmählich, dass Lih mir soeben ungewollt eine Ja-Nein-Frage gestellt hatte. Noch eine und der Pakt wäre gelöst.
Dass schien ihm auch allmählich klar zu werden, denn seine Stimme klang noch einen Ton schärfer. „Leiftan hält seine Familienangelegenheiten unter Verschluss und ich bin nicht gerade jemand, mit dem er prahlt. Abgesehen davon, siehst du nicht so aus, als hättest du die Fähigkeiten, einem Mann solche Geheimnisse zu entlocken."
‚Wenn du wüsstest.‘
Lass es meine Überforderung gewesen sein: Mir fiel nichts Besseres ein, als die Stimme in meinem Kopf Wort für Wort zu wiederholen. Lih auf diese Weise zu einer weiteren Frage zu provozieren, könnte mir schließlich dabei helfen, den Pakt zu brechen. ‚„Ihr ähnelt euch vielleicht mehr als du denkst.“‘
„Das sagst du, obwohl du mich nicht einmal kennst.“ Lih knurrte und hielt mir drohend seinen Stock gegen den Hals. „Sag schon. Woher weißt du, dass Leiftan und ich verwandt sind?“
Scheinbar mochte er es echt nicht, mit seinem Bruder verglichen zu werden.
Nunja.
Seine Schwäche war meine Chance.
Und da mir die Stimme die Sätze vorgab, als würde sie selbst mit ihm sprechen wollen, konnte ich ihr Gesagtes wiedergeben und mich stattdessen ganz auf Lih konzentrieren.
Ich wusste, gleich hatte ich ihn so weit.
‚„Du blickst es echt nicht, was?“‘, gab ich wieder. ‚„Meinst du ein paar Narben in deinem Gesicht könnten es verbergen?“‘
„Was verbergen? Wir sehen uns kaum ähnlich.“
‚„Dann hast du dich nie genau angeschaut. Diese Wangenknochen und dieser allesdurchdringende Blick. Man muss schon blind auf beiden Augen sein, um nicht sofort zu erkennen, dass ihr die gleichen Gene teilt. Ich meine, ihr seid beide extrem heiß.“'
Lih sah mich verdutzt an.
Ich starrte verdutzt zurück.
Moment!
WAS habe ich da gerade gesagt?


Kommi



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#105 Am 23.04.2023 um 18.49 Uhr

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>> Chapter V: Tausend Lichter
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Part 3: Stimmenhören akzeptieren



„Ich habe da mal etwas ist einem Buch gelesen“, begann Lih. Er versuchte gefasst zu klingen, aber seine Stimme klang etwas heiser. „Man nennt das Stockhauser-Syndrom, oder so.“
„Stockholm“, korrigierte ich.
Wir schluckten beide.
Betretendes Schweigen folgte.
Als Lih schließlich zu einer Frage ansetzte, schnalzte ich mit der Zunge, um ihn zu unterbrechen. „Entschuldige, ich glaub, ich muss mal.“
Mit schnellen Schritten stiefelte ich so weit ich konnte davon, ehe ich einen Baum fand, der mir passend genug schien, meinen Kopf dagegen zu schlagen.
Wie konnte ich nur so dumm sein, einer Stimme in meinem Kopf zu vertrauen?
Lih und heiß? Wer kommt bitte auf sowas? Nicht, dass er mies aussieht, aber sein Charakter ist doch wirklich... Argh!
‘Was wird das, Emmi? Das tut echt weh’, meldete sich die Stimme wieder zu Wort. Als ich nicht aufhörte, schoss mir ein Strahl Wasser ins Gesicht, den sie wohl aus meiner Hand beschwor.
„Was das wird?“, wiederholte ich gereizt. „Das könnte ich dich fragen. Was ist das hier alles? Du? Dieses Wasser-Gedöns… Und warum hast du mir so einen Unsinn ins Ohr gesetzt?“
‘Nun, es war die Wahrheit.’
„Bist du irre?“
‘Sagt das Mädchen, das ihren Kopf gegen einen Baum hämmert.’
Okay, sie hatte da einen Punkt. Ich ließ von dem Baum ab und ließ mich mit einem lauten Plumps auf den Boden fallen.
Dann blickte ich um die Ecke, hinter den Baum. Ich war scheinbar weit genug von Lih entfernt, als dass er mich hier hören konnte. Gut!
Denn jetzt wurde es Zeit für ein Gespräch. Oh ja!
All die Zeit über habe ich die Stimme und diese Fähigkeit verdrängt, aber nun war Schluss. Ich musste etwas unternehmen, bevor ich noch endgültig den Verstand verlor.
„Ich will Antworten. Jetzt!“, sagte ich.
‘Klar, aber ich meine: Ist das nicht offensichtlich?’ Sie gab ein schmachtendes Stöhnen von sich. ‘Ich mag böse Jungs. Und diese Grübchen, wenn er sich aufregt, sind wirklich sex…‘
„Stopp“, fuhr ich ihr dazwischen. Himmel, Herrgott. „Das meine ich doch gar nicht. Ich will wissen, wer du bist. Wieso bist du ständig in meinem Kopf und wieso kann nur ich dich hören?“
Sie seufzte.
Während ich auf eine Antwort wartete, grub ich mit einem Stock Löcher in den Boden, doch als die erste Mulde mit Regenwasser gefüllt war, verlor ich die Geduld.
„Wenn du jetzt wieder einen auf Funkstille machst, ich schwöre, ich mache mit dem Baum da
weiter, wo ich vorhin aufgehört habe.“
Dass sie meinen Schmerz zu teilen schien, kam mir da sehr gelegen.
Notfalls würde ich die Antworten aus uns herausprügeln.
Daher stand ich entschlossen auf, trat vor den Baum und holte Schwung.
‘Ist ja gut!’, rief sie so laut, dass es in meinem Kopf klingelte. ‘Du hast gewonnen. Bleib bitte von dem Baum da weg. Echt mal! Der hat dir nichts getan.’
Ich ließ mich fallen.
Ein Glück.
Mir war ohnehin schon ganz schwindelig.
Doch um ihr zu zeigen, dass ich es ernst meinte, musste ich unnachgiebig bleiben.
„Also? Wer bist du?“, fragte ich.
‘Rate.’
Ich kniff mir in den Fuß, bis wir beide aufstöhnten.
‘Du bist so ‘ne Spaßbremse, Emmi.’
„Du solltest sehen, wie viel Spaß ich haben kann, wenn ich uns die Schulter auskugle. Weißt du was: Wenn du dich nicht erklären willst, dann verschwinde einfach aus meinem Kopf.“
Das hätte ich schon viel eher fordern sollen.
‘Würd ich ja!’ Ihre Stimme war mit einem Mal aber unerwartet ruhig. ‘Ehrlich, Emmi, wie soll ich gehen? Ich bin ein Teil von dir.’
„Willst du mir etwa sagen, ich sei schizophren?“
Ich konnte hören, wie sie sich in meinem Kopf vor Lachen wegschmiss. ‘Möglich, aber das hätte mit mir nichts zu tun. Im Gegensatz zu einer Psychose bin ich nämlich zum Teil greifbar.’
Mein Schweigen schien sie richtig verstanden zu haben, denn sie erklärte: ‚Diese Wasser-Kräfte in dir und ich hängen zusammen. Flipp jetzt nicht aus, Emmi, aber du trägst einen Splitter des Kristallbaumes dieser Welt in dir. Und da meine Seele genauso an diesen Splitter geknüpft ist wie deine Kräfte, kann ich zu unser beider Übel nirgends hin...‘
Ich schüttelte den Kopf. „Ist das wieder ein Witz?“
‘Nope, und wenn jemand fragt: Du hast das nicht von mir, denn ich musste damals versprechen, dass ich das vor dir geheim halte, bevor wieder ein Unglück passiert.'
Ich sah hoch, ganz nach oben, durch die Baumkronen hindurch bis in den Himmel, der so völlig anders war als der meiner alten Welt. Das ergab doch alles noch viel weniger Sinn.
„Was für ein Unglück?“
'Du hast das vergessen. Vielmehr wurde dafür gesorgt, dass du es vergisst. Aber das zu erklären, würde länger dauern. Nur so viel: Der Kristall in dir wurde in deiner Jugend samt mir und deiner Kräfte versiegelt. Auf diese Weise konntest du ein normales Leben führen. Naja, bis irgendwas diese Kräfte in dir wiedererweckt hat jedenfalls.'
Das war doch ausgemachter Blödsinn. „Vergessen? Ja, klar. Wie konnte der Kristall überhaupt in mich hineingelangen? Ich bin mir sicher, dass meine Eltern Menschen waren und nie einen Fuß nach Eldarya gesetzt haben."
'Das stimmt meines Wissens auch. Du wurdest dennoch mit dem Kristall geboren. Das passiert hin und wieder. Extrem selten, aber es passiert. Offenkundig.'
„Davon habe ich noch nie gehört.“
‘Sicher? Ist dir nicht aufgefallen, dass dieser Lih auch einen Splitter in sich trägt? Mit genug Konzentration müsstest du ihn spüren können, wenn du ihn berührst. Wenn ich mich an Leiftans Worte richtig erinnere, dann hat sein Bruder die Fähigkeit, die Elektrizität zu kontrollieren. Klingelt da was?‘
Ich nickte etwas perplex.
‚Man nennt euch in Eldarya auch Splitter-Träger oder Elementar-Gesegnete. Ich habe schon ein paar kennengelernt. Die Elemente können durchaus variieren, aber ihr Ursprung ist gleich. Der Kristallbaum selbst gibt ihnen diese Macht. Dein Splitter ist ziemlich genau unter der rechten Rippe. Nein, das andere Rechts… Ja, da direkt unter deinem Herzen.‘
„Warte... Heißt das, Lih hat auch so eine Stimme in seinem Kopf?”
Sie lachte. ‘Nein, das glaube ich. Dein Zustand ist… sagen wir einzigartig.’
„Toll”, gab ich tonlos zurück. „Das fühlt sich nicht gerade wie ein Sechser im Lotto an.”
‚Glaub mir, ich kann dich verstehen. Die Kräfte sind auch nicht ohne und werden von vielen als eine Gefahr angesehen. Daher empfehle ich dir, sie geheim zu halten.’
Irgendwie bereute ich überhaupt danach gefragt zu haben. Was sollte ich mit den ganzen Informationen nur anfangen? Konnte ich das überhaupt glauben?
Auch wenn mir die Kräfte so manches Mal geholfen hatten, war das doch alles völlig verrückt.
Mal abgesehen davon, dass ich eine Stimme in meinem Kopf hatte. Eine Stimme, die noch dazu auf meinen Entführer scharf war. Das war alles mehr Verwirrung als ich momentan gebrauchen konnte.
Mit einem Ruck stand ich schließlich auf. „Okay, mal angenommen, ich würde das glauben. Kann ich den Splitter nicht irgendwie loswerden? Rausschneiden, einen Zauber wirken oder so?“
‚Keine Ahnung.’
„Ist das alles? Es muss irgendetwas geben!“
‘Und wenn schon? Ich bin kein Lexikon!’
„Wieso bist du jetzt sauer? Das ist mein Leben. Du bist bloß ein Splitter.“
Als sie nicht reagierte, hatte ich allerdings schon irgendwie ein schlechtes Gewissen, dass ich zu harsch war. „Okay, hör zu. Im Lager der Garde gibt es Bücher. Ich kann ein bisschen recherchieren. Vielleicht finden wir eine Lösung, mit der wir beide leben können.“
Zuerst blieb es still, doch dann räusperte sich die Stimme schließlich.
‚Die Garde von Eel hat hier echt ein Lager aufgebaut?’, hakte sie nach. Keine Ahnung, warum sie das jetzt interessierte.
Ich drehte mich aber in die Richtung des Waldes, wo der Schein der Laternen die Mauer beleuchtete. „Ja, ich war doch schon hier gewesen. Ich dachte, du hörst und siehst alles, was ich erlebe.“
‚Hörst du mir denn nicht zu? Ich war eine ganze Zeit versiegelt. Irgendetwas hat das Siegel erst durchbrechen können, als wir in der Höhle miteinander gesprochen haben. Und auch danach war zwischendurch öfters die Verbindung weg. Nach der Sache im Berg habe ich noch mitbekommen, wie du in ein Dorf gegangen bist, aber bis heute Morgen auf dem Marktplatz war alles dunkel. Ich habe in diesen Zeiten weder Zugriff auf deine Gefühle, noch auf deine Wahrnehmungen.’
Keine Ahnung, ob ich wirklich verstehe, was das heißt. Hätte sie nicht einfach versiegelt bleiben können?
Moment...
Irgendetwas, das die Macht hat, ein solches Siegel zu lösen…? Habe ich denn irgendwas an mir, dass sowas könnte? Ich tippte nachdenklich auf meinen Anhänger. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass es dafür eine einfache Erklärung gab, aber ich kam einfach nicht drauf.
Falls die Stimme überhaupt die Wahrheit sagte.
Aber gut. Sobald wir eine Möglichkeit gefunden haben, den Splitter zu entfernen, war das eh egal.
‚Ich würde dir aber davon abraten, zur Garde zu gehen’, unterbrach die Stimme meine Überlegungen. ‚Wenn die von deinen Kräften erfahren, bist du geliefert. Glaub mir.’
Auch wenn ihre Warnung aufrichtig klang, war das immer noch meine Entscheidung. Und Chrome würde ich nicht hängen lassen.
„Versteh mich nicht falsch. Ich will nicht undankbar sein. Du hast mich schließlich aus der Höhle befreit und im Kampf gegen Lih unterstützt, aber es gibt im Augenblick andere Dinge, die mir wichtig sind. Also verhalte dich einfach ruhig und hilf mir solange die Kräfte im Zaum zu halten, ja?“
‚Wieso sollte ich? Ich bin doch nur ein Splitter.’
Mit diesen Worten war es wieder still.
Und obwohl ich mehrfach versuchte, auf sie einzureden, zog sie es vor, mich anzuschweigen.
Man, die konnte nachtragend sein. Haben sie meine Worte echt so verletzt?
Allerdings hatte ich fürs Erste echt mehr als genug gehört und ehe Lih mich hier noch Selbstgespräche führen hörte, machte mich auf den Rückweg. Plötzlich kam mir aber eine Idee, wie ich meine momentane Situation vielleicht für mich nutzen konnte.
„Lih“, rief ich, als ich zu unserem provisorischen Nachtplatz zurückkehrte. „du musst mir erklären, wie ich meine Wasser-Kräfte kontrollieren kann.“
Nachdem Lih seinen Trinkschlauch abgesetzt hatte, hob er eine Augenbraue, allerdings ohne aufzusehen. „Sag bloß, du hast es nicht mehr bis zum Abtritt geschafft.“
Ich verdrehte die Augen. „Wirklich witzig. Ich meine es ernst.”
„Natürlich meinst du das. Aber ich hoffe nicht, dass du mich für so dämlich hältst, dass ich dir zeige, wie du mich im Schlaf ertränkst.”
Ungeachtet seiner Worte setzte ich mich direkt zu ihm. „Ganz im Gegenteil. Wenn du nicht möchtest, dass ich dich im Halbschlaf attackiere, weil ich meine Kräfte nicht beherrschen kann, wäre es wohl besser, du zeigst mir, wie das mit der Kontrolle geht.”
Er schob sich ein Stück von mir weg, sein Blick war immer noch von mir abgewandt. „Mal angenommen, ich wollte. Wie kommst du überhaupt darauf, dass ich das könnte?”
Seine abweisende Art überraschte mich etwas. Machte ich ihn etwa nervös?
Hehe…
Nun. Mir war diese Seite von ihm irgendwie lieber als sein arrogantes Getue. Und immerhin schien er kein Interesse daran zu haben, über den Vorfall von vorhin zu sprechen.
Ich grinste daher und schob meinen Kopf so weit in sein Blickfeld, dass er mich ansehen musste. „Ich denke, dass du mir helfen kannst, weil unsere Kräfte den gleichen Ursprung haben. Du trägst einen Splitter des Kristallbaumes in dir - genau wie ich, stimmt’s?“
Nun hob er doch eine Augenbraue. „Das hat dir wohl mein Bruder erzählt.”
Mein Kopfschütteln schien ihn etwas zu beruhigen, denn er drehte sich nun doch zu mir und sah mich eine Weile an. „Du scheinst mehr zu wissen, als ich bislang angenommen hatte.”
Mit diesen Worten drückte er mir seinen Trinkschlauch in die Hand.
„Wieso klingst du so überrascht?” Ich nahm einen großen Schluck. Es war Tee. Natürlich. Aber er schmeckte gut und da Lih zuvor aus demselben Schlauch getrunken hatte, brauchte ich mir bezüglich einer weiteren Vergiftung wenigstens keine Sorgen zu machen.
Als ich aufsah, fiel mir jedoch auf, dass Lih sich nun ein Stück zu mir gebeugt hatte. „Ich erinnere mich noch gut an unser erstes Zusammentreffen am Fluss”, sagte er. „Du hast nicht den Eindruck gemacht, als würdest du wissen, dass du solche Fähigkeiten besitzt und warst von meinen völlig überwältigt. Jetzt sieh dich an: Du scheinst nun überraschend viel Durchblick zu haben, bittest mich sogar um meine Hilfe… Wenn das so weiter geht, verbünden wir uns wohl morgen für die Weltherrschaft, was?“
‘Ohja, bitte!’, rief die Stimme in meinem Kopf.
Das Ganze kam so plötzlich, dass ich Lih vor Schreck den halben Tee ins Gesicht spuckte.
„Das war ein Scherz”, erwiderte er und rieb sich die Wangen. „Ein gut gemeinter Rat: Du solltest echt nicht auf alles hören, was ich dir sage.“
Ich nickte und hämmerte mir verärgert gegen den Kopf. Die Stimme begann zu maulen.
Na, das konnte ja echt heiter werden.

Letzte Änderung durch Ama (Am 30.04.2023 um 12.04 Uhr)

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#106 Am 04.08.2023 um 09.39 Uhr

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>> Chapter V: Tausend Lichter
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Part 4: Sowohl Freund als Feind



Ich nieste, als der Regen bis zu meinem Unterhemd vorgedrungen war.
„Ist es das, worum es dir hier geht?”, fragte ich. „Stiftest du hier nur Unruhen, um die Weltherrschaft zu erlangen?”
„Wer weiß.” Lih zog einen Mundwinkel so schief, dass sich die Narbe an seiner Augenbraue kräus-te, was mich davon überzeugte, dass er doch (noch) andere Ziele zu verfolgen schien.
Doch mehr sagte er nicht.
Stattdessen nahm Lih eine Decke, die vorher als Sattelunterlage gedient hatte, um sie über den Ästen aufzuhängen. Der provisorische Schirm hielt aufgrund seines geneigten Winkels erstaunlich gut, was den Eindruck in mir bestärkte, dass Lih öfter im Freien campierte. Das Wetter schien ihm auch nichts auszumachen und er wusste genau, wie man mit Moosnelkensamen das Lager gegen Blackdogs sicherte. Vielleicht war sein größtes Geheimnis doch, wie er bei seinem naturaffinen Lifestyle diese Kutte so weiß hielt.
Nachdem er fertig war, setzte er sich neben mich und trank in aller Seelenruhe seinen Tee, während er in den dunklen Himmel starrte. Wollte er nicht eigentlich schlafen?
Aus dem Kerl wurde man echt nicht schlau.
Unbeholfen spielte ich an meinem Anhänger, während ich versuchte, meine eigene Müdigkeit hin-unter zu gähnen.
„Ich kann dir etwas über unsere Kräfte erzählen“, sagte Lih schließlich. „Aber ich bezweifle, dass es dir gefallen wird.“
Mein Kopf hob sich ruckartig und ich hatte Mühe, mir meine Neugierde nicht noch stärker anmer-ken zu lassen.
Ich konnte nicht ausschließen, dass das ein Trick war. Lih war berechnend und absolut skrupellos, doch hin und wieder zeigte er auch Anflüge von Geselligkeit.
Und ich wollte wirklich mehr über unsere Kräfte erfahren. Daher zog ich meine Knie bis an meine Nase und nickte dann. „Mir ist schon bewusst, dass diese Kräfte gefährlich sind.“
„Wirklich? In Balenvia hast du noch behauptet, dass du den Kräften vertraust.“
In Anbetracht jüngster Ereignisse zuckte ich missmutig mit den Schultern. „Ehe ich darauf warte, dass mein Vertrauen enttäuscht wird, will ich es selbst kontrollieren lernen.“ Ich sagte es etwas lauter und scheinbar fühlte sich die richtige Person angesprochen, denn die Stimme in mir grummelte nur ein ‚Jaja…‘ vor sich hin.
Ich konnte nicht leugnen, dass ich immer noch ein gewisses Band und eine Art Urvertrauen in sie verspürte. Aber ich wusste nicht, woher dieses Gefühl kam. Vielleicht pflanzte sie es in meinen Geist. So oder so… abhängig sein wollte ich auch von niemandem.
„Sinnvolle Einstellung. Kontrolle ist das Wichtigste an der Sache - sonst sind wir alle verloren.“ Ein Donner in der Ferne untermalte Lihs apokalyptische Aussage.
„Ganz schön dramatisch“, kommentierte ich, doch Lihs Stimme blieb ernst. „Das wärst du auch, wenn du wegen dieser Kräfte dutzende Familienmitglieder und Freunde begraben hättest.“
Er sah voller Zorn auf mich herab, doch etwas in meinem Gesicht schien ihn zu besänftigen, denn er beruhigte sich recht schnell und seufzte schließlich. „Jetzt schau nicht so. Unser Schicksal steht eben unter einem besonders ungünstigen Stern. Die Garde nennt uns zwar Elementar-Gesegnete, aber ich kenne keinen, für den diese Kräfte ein Segen gewesen wären. Für die meisten ist es nur ein Garant für ein vorzeitiges Ende. Ganz gleich wie man es dreht: Wenn dich die Kräfte nicht umbringen, dann die Leute, die sie fürchten.”
Ich schluckte. Das hatte die Stimme auch gesagt, doch bisher habe ich das nie so wahrgenommen. Unschlüssig sah ich auf meine Hände hinab. „Sind diese Kräfte denn so unberechenbar?”
Lih wog den Kopf und drehte sich dann ganz plötzlich zu mir herum. Sein Blick senkte sich auf mich herab wie eine zum Leben erweckte Statur. Scheinbar war ich für ihn genauso schwer zu lesen, wie er für mich. „Die Kräfte an sich sind nicht das Problem, aber das jeweilige Gefühl, was sie auslöst”, erklärte er und beobachtete mich genau. „Gefühle haben nun einmal die nervige Eigenschaft, schwer zu bändigen zu sein. Das heißt auch, dass deine Kräfte davon abhängen, wie gut du das eine Gefühl kontrollieren kannst… Und deinem Blick nach zu urteilen, hast du wohl keine Ahnung, wovon ich rede.”
Ich atmete tief aus. Wenn der wüsste…
„Erstaunlich, wie du bisher überleben konntest.” Schnaubend nahm er mir den Schlauch aus der Hand und trank selbst einen Schluck. „Du solltest wissen: Jedes Element ist an genau ein Gefühl geknüpft. Je öfter die Kraft durch dich fließt, desto stärker wird sie - ähnlich eines Geflechts, das in dir wächst. Doch das heißt im Umkehrschluss auch, dass irgendwann minimale Gefühlsände-rungen aus einem Knistern in der Luft einen Blitz machen können.“
Er brauchte nur mit dem Finger zu schnippen, um mir den Unterschied deutlich zu machen. Ich hatte keine Ahnung, wie er das machte, aber bei ihm sah es so mühelos aus.
Diese Elektrizität so aus der Nähe zu sehen, war beeindruckend, doch auch wenn er die Kraft nicht gegen mich einsetzte, zuckte ich bei jedem Funken schlagartig zusammen.
Lih grinste, als ich meine Hand in seiner Kutte vergrub. Ich wollte ihn zurechtweisen, aber sein offenes Lachen verunsicherte mich plötzlich. Irgendwie hatte ich das Gefühl, da läge immer noch ein Knistern in der Luft, aber das schien nichts mit seinen Kräften zu tun zu haben. Sein Blick war so seltsam intensiv, dass mich ein leichter Schauer durchfuhr, während er mich genau musterte. Doch ich hatte nicht den Eindruck, dass Lih wirklich mich ansah, sondern viel mehr die Konturen meines Gesichtes, als wäre ich ein Gemälde, das er in seinen Besitz bringen wollte. Doch ging es hier wirklich um mich?
Als ich die Stimme in mir schmachten hörte, räusperte ich mich schließlich und schob mich ein Stück von ihm weg.
„Was ist denn der Gefühlsauslöser?“, fragte ich und konzentrierte mich darauf, mehr über meine Kräfte zu erfahren.
„Das ist bei jedem anders“, er drehte sich ebenfalls wieder nach vorn, das Knistern verscgwand, „und ein Geheimnis, das man besser bewahren sollte. Schließlich willst du nicht, dass man diese Gefühle in dir absichtlich provoziert. Nur wenn du lernst das Gefühl zu beherrschen, hast du die Kontrolle über deine Kraft. Ansonsten verstärken sich die Gefühle und die Kraft gegenseitig und du wirst alles um dich herum zerstören.“
Das waren nicht die Aussichten, auf die ich gehofft hatte.
„Gibt es noch mehr Elementar-Gesegnete?“, fragte ich weiter.
Lih rieb sich die Stirn. Er brauchte nichts sagen. Ich sah seinem Gesicht sogar von der Seite an, dass er sich an etwas Schreckliches erinnerte. Lih musste eine Menge Leute verloren haben. Nicht nur Elementar-Gesegnete, sondern auch andere Personen, die ihm etwas bedeutet haben. War das der Grund für seinen abgestumpften und kühlen Charakter?
Und nicht nur er…
Allmählich wurde mir etwas bewusst. Ich kannte da noch eine Person, die deutlich neben der Spur war.
„Sag mal, Lih. Ist Lillif auch…?“
„Schweig“, unterbrach er mich sofort. Seine Stimme übertönte selbst den Donner. Er sah mich nicht einmal an, sondern versteifte sich wie kurz vor einem Angriff. „Ich werde über sie nicht sprechen. Also spar dir den Atem.“
Offengestanden, ich war in dem Moment fassungslos. Nicht nur, weil er wieder so angsteinflößend war, sondern weil ich genau hörte, wie viel Schmerz in seinen Worten lag.
Und ich war nicht die einzige, die das mitbekam.
‚Mist‘, brummte die Stimme in meinem Kopf. „Da trifft man ein Mal einen interessanten Kerl und der hat natürlich schon Gefühle für 'ne andere.“
Verwundert schüttelte ich den Kopf und schielte dann vorsichtig zu Lihs Gesicht hoch. Seine Wangen waren rot, seine Pupillen geweitet.
Natürlich. Wieso war mir das nicht viel eher aufgefallen? Dieser Blick, mit dem er mich – oder eher den Körper, in dem ich steckte, betrachtet hatte… War er wirklich in Lillif verliebt?
Nun. Das würde zumindest erklären, warum er sie suchte und warum er keine fünf Sekunden gebraucht hatte, um zu durchschauen, dass ich nicht Lillif war.
Lih hatte seine abfällige Miene wieder aufgesetzt, während ich ihn unverhohlen anstarrte. Doch inzwischen konnte ich durch diese Maske hindurchsehen - zumindest ein Stück weit.
Ich beschloss, das fürs Erste so hinzunehmen, zumal mich seine Reaktion bestärkte. Lillif musste auch eine Elementar-Gesegnete sein.
Natürlich; ihre Kraft war das Feuer!
Plötzlich erinnerte ich mich an den verkohlten Raum im Haus von Mercedes. Den Spuren nach zu urteilen hatte Lillif in der Ecke des Raumes auf dem Boden gesessen. Das hatte mich eh verwun-dert. Ich würde mich nur so in eine Ecke kauern, wenn ich Kummer hatte. Was, wenn Lillif auch Schwierigkeiten hatte, mit ihren Fähigkeiten klarzukommen?
Aber hieß das nicht…?
Ruckartig drehte ich mich zu Lih. „Wie würde die Garde einen Elementar-Gesegneten bestrafen, der versehentlich andere durch seine Kräfte verletzt?“
„Was meinst du?“ Seine Stimme war immer noch kalt, aber auch neugierig.
Ich biss mir auf die Lippe, ließ mich aber nicht beirren. „Mal angenommen, ich komme in ein Dorf, wo mich etwas aufwühlt. Plötzlich überwältigt mich meine Kraft und ich überschwemme den Ort in einer gewaltigen Flut, was viele Leben fordert. Ich kann zwar fliehen, doch kaum erreiche ich das nächste Dorf, passiert dort genau das gleiche und egal, wo ich lande, ich lasse nichts als Zerstörung zurück. Selbst wenn es nie meine Absicht war, jemandem wehzutun.“
„Tja, deine Beweggründe spielen keine Rolle. Du bist eine Gefahr. Die Garde wird dich also töten“, sagte Lih ernst, doch er warf mir einen seltsamen Blick zu. Er schien genau zu wissen, warum ich das fragte und führte fort: „Aus dieser Hölle gibt es kein Entkommen. Zumindest nicht für deine Rolle in dieser Gesellschaft. Du bist das Monster, die Bestie, die jeder jagt. Und irgendwann ist es ohnehin zu spät - dann glaubst es selbst.“
Mir wurde irgendwie mulmig. Ich kannte das Gefühl, verstoßen zu werden, nur zu gut.
War es das, was Lillif durchmachte? Waren die Angriffe auf die Dörfer möglicherweise doch Unfälle? Zumindest zum Teil? Lillif hatte bestimmt einen an der Klatsche, aber es bestand die Möglichkeit, dass sie die Feuer nicht absichtlich legte.
Ich lehnte mich ein Stück zu Lih vor.
„Gibt es denn nichts, was man da tun könnte?“, fragte ich. „So rein hypothetisch. Was würdest du tun, um jemanden aus dieser Lage herauszuhelfen?“
„Rein hypothetisch“, wiederholte er und grinste, weil er ganz genau wusste, dass wir hier nicht von irgendeinem hypothetischen Fall, sondern von Lillif sprachen. „Na gut. Ich werde es dir verraten: Ich würde ein Monster beschwören, das vor ihren Fähigkeiten immun ist, das sie findet und in Sicherheit bringt.“
Die Bestie. Ich brauchte einen Moment, bis ich begriff, was das hieß. „Du arbeitest wirklich mit der Bestie zusammen. Doch nicht um die Dörfer zu zerstören. Die Bestie soll dir helfen, Lillif zu finden. Deswegen kann die Bestie auch durch das Feuer gehen. Sie ist gegen das Feuer immun.“
Er sagte nichts, zog aber einen Mundwinkel nach oben, als feierte er noch immer seinen genialen Schachzug.
Unsere Blicke ruhten eine Weile aufeinander, während wir wohl beide darüber nachdachten, ob es am Pakt lag, dass es uns plötzlich so leicht fiel, uns das alles anzuvertrauen oder der Grund ganz woanders lag.
Denn wie sich herausstellte, waren wir gar nicht so verschieden.
Ich war mir sicher, dass alles, was Lih mir gerade erzählt hatte, seiner tiefsten Überzeugung ent-sprang und damit der Wahrheit am nächsten kam. So sehr wie ich Chrome retten wollte, wollte er Lillif beschützen.
Deshalb hatte er mir auch den Pakt aufgeschwatzt!
Er wollte wissen, was ich wusste und ob ich Lillif an die Garde verraten würde. Doch jedes Geheim-nis, das ich lüftete, machte die Flucht für mich nur schwerer.nun wusste ich definitiv zu viel. Lih konnte nicht riskieren, dass ich mein Wissen mit der Garde teilte.
„Du wirst mich sicher nicht so schnell von dem Pakt befreien“, seufzte ich. „Aber danke, dass du mich hierhergebracht hast, damit ich meinen Freund retten kann. So ein Monster - wie du glaubst - bist du wohl doch nicht.“
Auch wenn ich die Worte ernst meinte, erschütterte mich die Erkenntnis zutiefst. Ich würde morgen nicht an der Prüfung teilnehmen und Chrome wahrscheinlich nur kurz sehen können. Bis Lih Lillif wiedergefunden und in Sicherheit gebracht hatte, war ich an ihn gebunden und würde meine Freunde nicht wiedersehen. Und das mieseste an der Sache war, ich konnte ihm deshalb nicht einmal böse sein. Natürlich verabscheute ich seine Methoden und das Chaos, das Lillifs grauenvol-le Taten verursacht hatten, aber ich verstand Lih irgendwo auch. Wem half meine Wut da über-haupt? Doch wenn meine Wut nicht mehr da war, dann blieb eigentlich nur noch ein Gefühl…
In diesem Moment wurde mir speiübel.
Ich spürte, wie sich alles drehte. Mit einer knappen Verabschiedung, kurz Luft zu schnappen, duckte ich mich unter den fixierten Rändern des Schirmes hindurch, doch mit jedem Schritt, den ich nach vorne taumelte, wurde das beklemmende Stechen in meiner Brust nur schlimmer.
Da ich mich nicht direkt neben Lih übergeben wollte, versuchte ich so weit wegzukommen wie möglich. Mein Magen rebellierte abermals, doch es war nichts, was mir einfach hochkam.
Stattdessen fiel ich erschöpft in den Matsch – oder war das eine Pfütze?
Das war nicht nur Regen. Ich spürte das Wasser überall.
'Emmi!'
Es peitschte gegen mein Gesicht, drehte sich wieder und wieder im Kreis.
'Du musst dich beruhigen, Emmi.'
Die Stimme. Ich hörte sie mehrmals meinen Namen rufen, obwohl mein Kopf bereits unter Wasser tauchte. Da ich das Gefühl hatte zu ersticken, riss ich die Kette von meinem Hals. Augenblicklich verschwand die Stimme in meinem Kopf. Doch die plötzliche Ruhe gab mir noch mehr das Gefühl, allein zu sein. Würde ich jetzt an meinen eigenen Kräften ertrinken? Meine Hände versuchten etwas zu finden, woran ich mich festhalten konnte, doch da war nur Wasser.
Plötzlich riss mich jemand am Arm hoch, auf die Beine und hielt mich senkrecht. Ich starrte nach oben. Der Himmel lichtete sich bereits etwas - davor ein Kopf in meinem Blickfeld.
Lih seufzte, als ich ihn müde anblinzelte.
Er machte Anstalten, mich zurückzutragen, doch ich klopfte ihm nur abwehrend auf die Schulter.
„Allein. Lass mich“, murmelte ich.
Tatsächlich ließ er von mir ab, blieb aber mit mir im Regen stehen. Dieser wurde zwar langsam schwächer, doch noch immer weichte er eifrig seine Kutte auf.
„Du erinnerst mich an jemanden“, sagte Lih nach einer Weile. „Ein Junge, der genauso trotzig und starrsinnig ist wie du, und ebenso verflucht gutmütig.“
„Was?“, fragte ich. Ich konnte kaum aufrecht stehen, geschweige denn seinen Gedanken folgen.
Lih sah mich an. Lange. Sehr lange, ehe er schließlich seufzte und mich dann einfach fragte:
„Sag mir: Hast du vielleicht auch einen Bruder?“
Ich erstarrte, als mir ein bekannter Schmerz durch den Kopf zog.
Lihs Blick ruhte auf mir, während ich ein „Ja“ herauspresste, was mir halb freiwillig von den Lippen glitt und halb der Pakt entlockte.
Plötzlich begann das Mal auf unseren Händen zu leuchten, ehe es mit einem grellen Funkenregen verpuffte. Erst in diesem Moment realisierte ich, dass das die letzte Paktfrage gewesen war.
Verwundert sah ich zu Lih hoch, doch sein Gesicht blieb regungslos. Das war kein Versehen gewe-sen. Das hat er mit Absicht getan. Er ließ mich gehen.
Ich sah zu ihm auf, doch er zog nur einen Mundwinkel nach oben.
„Du…” bergann ich. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte.
Nun senkte er den Kopf, atmete tief durch und sah mich dann mit schmalen Augen an. „Um Missverständnissen vorzubeugen. Das ändert nichts.“
„Was?“
„Ich werde dich morgen sehr verletzen“, sagte er und hob das Kinn. „Auf die ein oder andere Art.“
Irritiert schüttelte ich den Kopf. „Wie kannst…? Ich meine… Warum?“
„Das ist nichts Persönliches.“
Meine Freude verebbte. Ich sah ihm an, dass er das wirklich ernst meinte.
Und dann wurde es mir klar:
„Dein Plan“, sagte ich. „Du hast einen Plan, Lillif zu schützen und der sieht vor, dass andere… dass ich verletzt werde?“
Er nickte.
„Aber… Warum sagst du mir das?“
Er zuckte mit den Schultern. „Das frage mich auch, aber ich habe beschlossen, dir einen kleinen Vorsprung zu geben. Vielleicht kannst du was draus machen.“
Mit diesen Worten legte er seine Hand auf meinen Rücken und drehte mich herum, bis ich das Lager der Garde vor mir erblickte. Dann schob er mich noch ein Stück darauf zu. „Also nutze die Gelegenheit und rette deinen Freund.“
Während ich langsam vorwärts stolperte, warf ich noch einen Blick über die Schulter zu ihm zu-rück. Seine Miene war fest. Beim nächsten Mal würde er mich wohl nicht schonen. Ein bisschen bedauerte ich es, dass wir uns dann wieder als Feinde gegenüberstehen würden.
Allerdings sollte ich diese Chance nicht verstreichen lassen.
Entschlossen taumelte ich vorwärts, bis meine Füße ein Eigenleben entwickelten und ich zu rennen begann.
„Dein Gefühl ist Trauer“, rief Lih mir noch hinterher und wurde dann leiser. „Mach‘s mir nicht zu leicht und lerne sie zu kontrollieren, ja?“

Letzte Änderung durch Ama (Am 04.08.2023 um 09.43 Uhr)

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